Geschichte der Lostorfer Gruppe

40 Jahre Lostorfer Gruppe

Die Lostorfer Gruppe (LG) wurde 1974 gegründet[1]. Namensgeber der Gruppe war die Ortschaft Bad Lostorf, wo die ersten Treffen der LG stattfanden. Das Tagungshotel und Thermalbad sind seit der Jahrtausendwende geschlossen. Eine Sanierung der ganzen Anlage scheiterte 2012. Eine Rückkehr nach Lostorf wird es in den nächsten Jahren voraussichtlich nicht geben.

Die Gründung der Lostorfer Gruppe war eine Folge der sogenannten 'Heimkampagne'. Worum ging es damals? Die 1968er- und folgenden Jahre brachten auf vielerlei Gebieten eine Neuorientierung, einen Umbruch. Alte Zöpfe wurden abgeschnitten, Althergebrachtes kritisch in Frage gestellt und überdacht und manches auch abgeschafft. Auch auf dem Gebiet der Erziehungsheime standen Veränderungen an, denn vor dieser Zeit gab es mancherlei Missstände; in vielen Einrichtungen herrschte im wahrsten Sinne des Wortes „Zucht und Ordnung“, übermächtige Heimväter regierten oftmals wenig kontrolliert und mit überharten Methoden. Vielfach herrschte in Einrichtungen eine Lieblosigkeit, welche das Leben für die Bewohner zu einer jahrelangen Qual machte. Auch kirchliche oder staatliche Einrichtungen spielten an manchen Orten eine dubiose Rolle; es herrschten fragwürdige Moralvorstellungen, Missbräuche wurden geduldet. Minderjährige wurden als billige Arbeitskräfte oder gar zu Schlimmerem missbraucht.

Im Oktober 1971 brachen 17 junge Männer aus der Arbeitserziehungsanstalt Uitikon Waldegg aus, da sie die dortigen Verhältnisse nicht mehr aushielten. Solche Vorfälle wurden in der Öffentlichkeit mehr und mehr thematisiert. Missstände wurden nun teilweise benannt, Verantwortliche - zumindest in Einzelfällen - zur Rechenschaft gezogen. Vieles wurde plötzlich hinterfragt. Teilweise gab es auch militante Aktionen 'junger Revoluzzer' gegen Einrichtungen, die in Ungnade gefallen waren. So wurde beispielsweise der Erlenhof in Reinach/BL besetzt. Es gab Demonstrationen.

Die Zeit nach 1968 war eine spannende Zeit, eine Zeit des Umbruchs. Nachdem viele Behörden jahrzehntelang zwischen den 'anständigen Bürgern' und dem 'Gesindel' unterschieden hatten und manches mit unterschiedlichen Ellen gemessen wurde, wurden viele dieser Praktiken in den nächsten Jahren erstmals in Frage gestellt. Anfang/Mitte der 70er-Jahre befand sich die Heimlandschaft plötzlich in einer existenziellen Krise, von der - neben den betroffenen Institutionen - auch die Jugendanwaltschaften als Einweiser massiv betroffen waren. Nicht wenige Einrichtungen wurden geschlossen, andere grundlegend mit neuen Leitungspersonen und neuen Konzepten der neuen Zeit angepasst. So wurde 1977 beispielsweise die therapeutische Gemeinschaft Arxhof ins Leben gerufen.

Einweiser und Institutionen standen unter einem starken öffentlichen Druck. Sie wurden kritisch beobachtet. Es gab eine lebhafte Debatte zwischen Kräften, die auf Neuerungen pochten und den Kräften, die am Bisherigen festhalten wollten. Jedenfalls herrschte eine grosse Unsicherheit. Es musste wieder Vertrauen zurück gewonnen werden. Es brauchte ein Überdenken der bisherigen Arbeitsweise, für die Einweiser und die Institutionen: eine Neuorientierung.

Aus dieser Situation heraus fanden sich einige innovative Kräfte zusammen, um den Neuanfang gemeinsam zu überdenken und sich gegenseitig zu unterstützen: Es war die Geburtsstunde der Lostorfer Gruppe. Diese war eine Schicksalsgemeinschaft, die zeitweise ‚mitten im Auge des Hurrican‘ stand. Die Namen der damaligen Institutionen, die bereits damals in der LG vertreten waren, sind die Gleichen wie heute: Neuhof Birr, Jugendheim Prêles, Erlenhof, Uitikon, Gfellergut u.a.m. In den ersten Jahren der Lostorfer Gruppe ging es v.a. darum, gemeinsam die aktuellen Probleme zu diskutieren. Es gab noch keine Tagung. Vielmehr traf man sich ca. viermal jährlich im Bad Lostorf. Zu den Treffen  erschienen jeweils  ca. 20 bis 30 Betroffene. Man diskutierte zusammen, wobei zeitweise sehr unterschiedliche Anschauungen vorhanden waren. Es gab kein Protokoll und keine Beschlüsse; manchmal wurde offenbar ein Communiqué zuhanden der Presse erstellt, da man die Öffent-lichkeitsarbeit als wichtig empfand.

Die Empfehlungen der Lostorfer Gruppe

Im Jahr 1976 formulierte die LG erstmals ihre Leitgedanken und Richtlinien für einweisende Stellen und veröffentlichte sie unter dem Titel "Randbedingungen der Zusammenarbeit". Man hatte erkannt, dass eine gute Zusammenarbeit zwischen den einweisenden Behörden und den Institutionen eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit war. 1987 wurde das Papier umfassend überarbeitet und unter dem heutigen Namen "Empfehlungen der Lostorfer Gruppe zur Zusammenarbeit" herausgegeben. Die letzte grössere Überarbeitung und Aktualisierung der Empfehlungen erfolgte im Jahr 2007. Dass ein Interesse an den Empfehlungen bestand, zeigte sich darin, dass bereits 3 Jahre später ein Nachdruck dieser bislang letzten Auflage erforderlich wurde. Seit 2014 werden die Empfehlungen auf der Homepage der Lostorfer Gruppe zum Download bereitgestellt.

Die Tagungen der Lostorfer Gruppe

Zwischen 1977 und 1979 wurde im Bad Lostorf erstmals eine Tagung für die Jugendanwaltschaften und stationären Einrichtungen, die mit delinquenten Jugendlichen arbeiten, durchgeführt. Der Titel der ersten dokumentierten Tagung war "Das Durchgangsheim", ein Begriff, den wir heute - abgesehen von der Durchgangsstation Winterthur und des Foyers in Basel - kaum mehr kennen.

Nach einigen Jahren wechselte man den Tagungsort, da Bad Lostorf zwar zentral liegt, aber doch eher schlecht zu erreichen ist. Meistens traf man sich in der Schenkung Dapples, weshalb die Tagungen auch "Schenkungs- oder Dapples-Tagung" genannt wurden. Allerdings gab es laut Christoph Hug, der als Leiter der Jugendanwaltschaft der Stadt Zürich während Jahren Gastgeber der Sitzungen des Vorstands war, vier Ausnahmen: Zur Verabschiedung der Gründungscrew traf man sich einmal im Bahnhofbuffet Zürich (Au Premier), einmal fand die Tagung mit namhaften Referenten  im Gottlieb Duttweiler Institut (GDI) in Rüschlikon statt zum Thema "Stirbt die Heimerziehung den Drogentod?". Der Leidensdruck zu Zeiten der offenen Drogenszene und des Platzspitzs war auch im Jugendstrafrecht sehr gross. Man trat aktiv an die Öffentlichkeit und erzielte offenbar ein bemerkenswertes Medienecho. Im "Pestalozzi-Jubiläumsjahr" traf man sich im Neuhof Birr und einmal, während Renovationsarbeiten in der Schenkung Dapples, fand die Tagung im Gfellergut statt.

Nach der 'Dapples-Ära' wechselte man 2001 in die Paulus Akademie in Zürich, wo 9 Jahre lang am ersten Juni-Mittwoch fast immer gutes Wetter herrschte und der zentrale Innenhof den idealen Rahmen bot. Für viele war es jeweils eine Art Klassentreffen, wo man sich wieder einmal sah und die Gespräche am Rand der Tagung genauso wichtig waren, wie die Referate. Seit dem Wechsel in den EPI-Park im Jahr 2010 macht nun Petrus nicht mehr so recht mit. Seither zeigten sich auch vermehrt die Schwierigkeiten, jedes Jahr genügend Interessenten für eine Teilnahme einer Tagung zu organisieren. Im Juni 2014 findet deshalb vorerst die letzte Tagung der Lostorfer Gruppe statt. Die Konkurrenz durch neue Veranstaltungen, insb. von Jugendheimen, die teilweise auch über höhere finanzielle Mittel verfügen, scheint zunehmend grösser zu werden. Zugleich steigt die Arbeitsbelastungen in den Behörden und Einrichtungen, sodass der Besuch von solchen Anlässen zunehmend als Luxus angesehen wird. Neue Ideen und Pläne sind aber vorhanden.

Ein Rückblick auf die früheren Tagungsthemen:

In den 1970er und 1980er-Jahren lag der Schwerpunkt zunächst bei der Vorstellung einzelner Heimkategorien. 1980 und 1983 wurden die Durchgangsheime vorgestellt, 1984 Heimerziehung für weibliche Jugendliche und 1985 die Beobachtungsstationen.

Die Tagungsthemen widerspiegeln teilweise die aktuellen Probleme der jeweiligen Jahre: Was man heute fast vergessen hat: Bis ca. 1997 waren die harten Drogen, insbesondere Heroin, ein Hauptproblem der Jugendanwaltschaften und Jugendheime. Bereits 1988 musste man sich Drogenfragen widmen: "Sucht und Heimsuchung" der Titel der damaligen Tagung. 1993 ging es um "Drogensucht und Jugendhilfe - Vier Thesen zur Neuorientierung oder stirbt die Heimerziehung den Drogentod?" Es war die Zeit des Platzspitzes und der offenen Drogenszene.

1995 war ein anderes Thema aktuell. Kleinere Skandale hatten ihren Niederschlag gefunden: Eine Familienplatzierung in Spanien war völlig aus dem Ruder gelaufen. Das Thema "Auslandsplatzierungen - Fluch(t) oder Segen?" war gegeben. Die Titelgebung der Tagung war in der damaligen Zeit zumindest originell!

Nachdem schon 1982 Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit sowie gegenseitiger Erwartungen unter dem Titel "Offenheit unter uns" Tagungsthema war, kehrte die eigentliche "Zusammenarbeitsthematik" zwischen Jugendanwaltschaften und stationären Einrichtungen erst nach 2000 wieder auf die Themenagenda zurück: 2005 z.B. "Wissen wir, was Ihr wollt?" oder 2009 "Krise der Zusammenarbeit".

Im neuen Jahrtausend wurde die Zusammenarbeit mit wichtigen Partner zunehmend wichtig: Die Kooperation mit den Schulen ("Schule in Not; Not mit der Schule" (2002) und der Notstand in der Jugendpsychiatrie (2003 und 2014).

Nur selten gab es eine Tagung, die eher losgelöst war vom eigentlichen Jugendstrafrecht. 1992 ging es ganz allgemein um die "Jugendszene Schweiz".

Andere Aktivitäten der LG seit 2000

Während in den ersten Jahren der Lostorfer Gruppe der direkte Meinungsaustausch im Vordergrund stand, bestand die Haupttätigkeit der Gruppe in den letzten Jahren in der Organisation der jährlich stattfindenden Tagung. In früheren Jahren beteiligte sich die Lostorfer Gruppe an Vernehmlassungen zu Bundesgesetzen.  Daneben wurde die LG aber auch immer wieder in anderen Bereichen tätig. Zwei Beispiele seien genannt:

2006 war die Schaffung einer Einrichtung für den Vollzug von Freiheitsstrafen für Jugendliche ein aktuelles Thema. Nach einem Gespräch mit dem Sekretär des Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und Innerschweiz wirkte eine Vertretung der LG an weiteren Planungssitzungen mit. 2010/11 war eine Zweierdelegation der Lostorfer Gruppe an der Planung und Gestaltung des neuen Nachdiplomstudiums CAS Jugendstrafrecht der Hochschule Luzern beteiligt. Durch die Beteiligung konnten die Bestrebungen unterstützt werden, dass ein vollständig eigenständiges CAS geschaffen wurde, welches nicht nur für Juristen und Juristinnen, sondern auch für Sozialarbeitende konzipiert ist.

Gemäss den Empfehlungen der Lostorfer Gruppe besteht ein weiteres Ziel darin, gemeinsame Anliegen in der Öffentlichkeit wirksam zu vertreten. 

Die Mitglieder der Kerngruppe der Lostorfer Gruppe

Wenn man die Liste der ehemaligen Mitglieder der LG anschaut, ist auffällig - und teilweise ein grosser Unterschied zu den letzten Jahren -, dass die Mitglieder früher wesentlich länger in der LG blieben, als dies seit der Jahrtausendwende der Fall ist. In den letzten Jahren ist auch ein klarer Trend feststellbar, dass viele Mitglieder der LG in den Vorstand der Vereinigung für Jugendstrafrecht wechselten. Vom aktuellen Vorstand der Vereinigung (davon 7 DeutschschweizerInnen) waren nicht weniger als 4 vorher in der LG.

Eine Besonderheit der LG stellt ihre Organisationsform dar. Sie ist kein eigentlicher Verein, hat keine Statuten und es ist auch nicht klar festgelegt, wie die abtretenden Mitglieder ersetzt werden. Dadurch fehlt es ihr manchmal etwas an Legitimation. Während die Heimvertreter-Innen weitgehend mittels Delegation durch die JHL (Vereinigung der JugendheimleiterInnen der deutschsprachigen Schweiz) und LIwJ (Leitungen der Institution weiblicher Jugendlicher) ein gewisses Mandat haben, fehlt bekanntlich eine solche Vereinigung im Bereich der Deutschschweizer Jugendanwaltschaften.

Krisen in der Geschichte der Lostorfer Gruppe

Auch die Lostorfer Gruppe ist gegen Krisen nicht immun. Aus den Schilderungen von Manfred Baumgartner, einem der Gründungsmitglieder der LG, und von Christoph Hug, als Gastgeber der Vorbereitungstreffen auf der Juga ZH während Jahren die treibende Kraft der LG, geht hervor, dass es zeitweise, insb. in den Anfangsjahren, eigentliche Richtungskämpfe um die Entwicklung der Heimlandschaft gab.

Später wurde vieles unpersönlicher und juristischer. Die Tendenz in einigen Kantonen, die Funktionen eines Jugendanwalts und Untersuchungsrichters des Erwachsenenstrafrechts austauschbar zu machen und eine Annäherung des Jugendstrafrechts zum Erwachsenenstrafrecht zu erzielen, machte in den letzten Jahren die Kooperationen zwischen den Jugendheimen und Jugendanwaltschaften nicht einfacher. Auch in unserem Arbeitsbereich hat der Föderalismus seinen Preis. Man kann fast sagen, dass jedes Jugendheim und jede Jugendanwaltschaft etwas anders funktioniert, was wiederum die Zusammenarbeit nicht einfacher macht.

Eine weitere Entwicklung erschwerte die Arbeit der Lostorfer Gruppe. In den letzten Jahren herrscht insb. zwischen den offenen Heimen ein stärkerer Konkurrenzkampf. Es werden vermehrt von einzelnen Institutionen regelmässig Tagungen durchgeführt, die auch ein Marketinginstrument darstellen. Diese Entwicklung hat auch Konsequenzen für die Lostorfer Gruppe und ihre Tagungen, primär natürlich in Bezug auf die Teilnehmerzahlen.

In den letzten Jahren hat die Belastung in unserem Arbeitsalltag spürbar zugenommen, das Geschäft ist härter geworden. Während einzelne Institutionen verstärkt mit Reorga-nisationen und der Durchführung von eigenen Tagungen beschäftigt sind, fühlen sich immer weniger Vertreter von Jugendanwaltschaften in der Lage, mehr Zeit in die Lostorfer Gruppe zu investieren.

Quo vadis

Es zeigt sich, dass die Lostorfer Gruppe in einer Krisenzeit entstanden ist, in welcher die einweisenden und vollziehenden Stellen unter erheblichem Druck standen und auf ein Zusammengehen und -stehen angewiesen waren.

Heute scheint es, dass weniger ein Bedarf nach einer jährlich stattfindenden Weiterbildungstagung besteht, sondern vielmehr wieder der direkte Austausch, persönliche Kontakte zwischen den Akteuren beider ‚Seiten‘, den Einweisern und denjenigen in den Jugendheimen wichtig erscheint. Es ist gut möglich, dass durch die 2013/14 aktuelle Diskussion um den „Fall Carlos“ wieder eine ähnliche Situation wie vor 40 Jahren entsteht und die Weiterentwicklung unseres Jugendstrafrechts in einer gewissen Weise bedroht ist. Umso wichtiger erscheint es, dass wir miteinander im Gespräch bleiben und für gute Lösungen kämpfen.

Dr. Thomas Faust, Jugendanwaltschaft BL, März 2014

 


Die Informationen zu diesem Text beruhen teilweise auf  Informationen eines Gründungsmitglieds der Lostorfer Gruppe: Manfred Baumgartner war in den 70er-Jahren Leiter des Basler Jugendheims (aus dem u.a. das heutige AH Basel hervorging). Daneben konnte auch Christoph Hug, langjähriger Leiter der Jugendanwaltschaft ZH, viel über die Geschichte der Gruppe berichten. Der Autor des Textes war zwischen 2000 und 2014 im Vorstand der Lostorfer Gruppe.